Reflexion über Wahlentscheidungen, große Parteien und kleine Parteien
Mit diesen Europawahlen habe ich zum vierten Mal vor den Wahlen an Mobilisierungskampagnen mitgewirkt. Mein subjektiver Eindruck und erstes Zwischenfazit: in keiner der vorigen Wahlen war das Interesse der Interessierten (die anderen sind nach wie vor schwer zu erreichen) so groß – oder sagen wir lieber so drängend – wie dieses Mal.
Ich habe zwischen Februar und dem letztem Mittwoch rund ein Dutzend Vorträge gehalten, Workshops durchgeführt oder als Gesprächspartner zu diesem Thema mitgewirkt. Darunter waren Schülergruppen, Lehrer, Mitglieder von Parteien und Vereinen oder Kirchengemeinden in einem Alter von 15 bis vielleicht 80 Jahren. Natürlich ist das kein repräsentativer Querschnitt, aber ich konnte Beobachtungen machen, die sich oft wiederholten.
Es fällt auf, dass viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert sind; dass die überwiegende Mehrheit das starke Gefühl hat, dass sich ihre Welt gerade schneller und stärker wandelt, als sie das zuvor getan hat. Es fällt auf, dass Pessimismus vorherrscht. Sorge, dass das Weltklima zu einem Problem werden könnte. Sorge, dass Populisten und Autoritäre an die Macht kommen. Sorge, dass der Wandel der Arbeitswelt zu Verwerfungen führen wird oder das die eigene Altersvorsorge zu einem Problem wird. Ja, selbst Sorge vor neuen Kriegen; auch in oder mit Europa.
Grundsätzlich überrascht mich das nicht, da ich solche Überlegungen durchaus nachvollziehen kann und selbst auch gelegentliche Zweifel habe, ob und inwieweit diese Probleme proaktiv politisch adressiert werden können. Ich war allerdings selten so sehr in der Rolle in des Optimisten und fühlte mich in der Vergangenheit selten so oft in der Pflicht, die Kritik hinten anzustellen wie in diesem Jahr, da ich es in vielen dieser Gruppen erlebt habe, dass sehr viele Menschen sehr pessimistische Positionen eingenommen haben. Mitunter hatte ich gar den Eindruck, dass sich nicht wenige dystopische Szenarien ausmalen.
Vor Wahlen stellt sich Wählerinnen und Wählern dann natürlich die Frage: „Welchen Einfluss habe ich darauf, dass all diese Probleme, von denen ich glaube, dass sie nicht hinreichend adressiert werden, einer Lösung zugeführt werden?” Den Gruppen, mit denen ich es zu tun hatte, war klar, dass die Wahlen das zentrale, wenn nicht das einzige Instrument sind, mit denen sie selbst eine politische Richtungsvorgabe machen können. Ich musste eigentlich nirgendwo dafür werben, dass die Beteiligten wählen gehen.
Dieses Jahr lag der Fokus auf einer anderen Frage. Nicht auf dem Ob, wenig auf dem Wie, sondern vor allem auf der Frage „wen soll ich wählen?”. Mein Eindruck ist, dass in der Vergangenheit viel mehr Personen klare Präferenzen hatten. In diesem Jahr habe ich dies nur in Veranstaltungen mit Parteimitgliedern erlebt, aber bei parteilich ungebundenen Bürgerinnen und Bürgern eher selten. Stattdessen war oft Ratlosigkeit zu vernehmen oder Anmerkungen zu hören, dass man niemanden sähe, den man für kompetent hielte, die Probleme zu lösen.
Die aus einer Gruppe kommende Frage „Wen soll ich wählen?” ist für einen politischen Bildner, der für einen überparteilichen Verband unterwegs ist, vergleichsweise heikel und ich muss sagen, dass ich zwar gerne jede Frage, welche Partei zwelche Schwerpunkte setzt, beantworte oder Antworten zu Positionen gebe, die bestimmte Parteien faktisch zu der einen oder anderen Frage eingenommen haben. Aber konkrete Wahlempfehlungen als Antwort auf ein komplexes und diffuses Bild der Verunsicherung? Ist das noch Aufgabe der politischen Bildung?
Ich meine, das ist es nicht. Politische Bildung soll Menschen in die Lage versetzen eigene Güterabwägungen zu treffen. Kann ich das erreichen, in dem ich meinen eigenen Güterabwägungsprozess transparent mache? Ganz sicher geht das, – sofern man Zeit hat. Dann ist das sogar ein sehr gut geeignetes Mittel, insbesondere wenn es Themen sind, bei denen man selbst Unsicherheiten hat, weil man an diesen gut aufzeigen kann, das die politische Meinungsbildung nie eine einfache Rechenaufgabe ist und das die Ergebnisse, zu denen jeder gelangt, nie höchst rational sein werden. Dass sie immer eine „unscharfe Annäherung” bleiben. Mit so einem Mittel kann man dann auch gut zeigen, wie es politischen Entscheidungsträgern selbst oft geht. Der politische Prozess ist komplex und kompliziert. Es ist nicht einfach die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bekommen. Dies merkt jeder, der ernsthaft anfängt über Prioritäten nachzudenken und dabei auf unterschiedliche eigene und fremde Interessen stößt und diese ernst nimmt.
Aber ein solches Vorgehen die Probleme der politischen Meinungsbildung aufzuzeigen funktioniert in vielen der üblichen zwei-Stunden-Formate eher nicht. Wie also beantworte ich solche weitreichenden Fragen, die ich in einer überparteilichen Funktion noch nie in dieser Häufigkeit gestellt bekommen habe? Was sagt man dann? Was sag ich dann?
Frage ich dann, welche dieser Themen die fragende Person besonders bedeutsam findet und versuche ich mich als menschlicher Wahl-O-Mat? Sage ich dann, wenn gesagt wird „Klimawandel”, „ja dann wählt grün”? Und wenn gesagt wird „ich will weniger Zuwanderung” „dann wählt CDU”? Das ist schwieriges Terrain und so einfach ist das dann doch nicht. Also lieber nicht. Ich sage dann: „Informieren Sie sich. Sprechen Sie mit Kandidatinnen und Kandidaten, lese Sie Programme, nutzen Sie vielleicht den Wahl-O-Maten als ersten Anhaltspunkt mit wem Sie vielleicht sprechen sollten. Gucken Sie im Internet bei Vote Watch nach wie Abgeordnete zu Themen, die Ihnen wichtig sind, abgestimmt haben.” Und natürlich sage ich auch: „Insbesondere aber lesen Sie Zeitung oder gucken Sie regelmäßig die Tagesschau um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie die Parteien sich positionieren.”
Das sind Antworten, die auch in der Vergangenheit in solchen Fällen eine gute Antwortmöglichkeit boten. Ich habe allerdings in den letzten Wochen den Eindruck gewonnen, dass diese Antwort zunehmend weniger trägt, da ich in im Vergleich zu vorigen Jahren viel häufiger auf eine solche Antwort Satzfragmente hörte wie: „in der Tagesschau sagen sie alle das gleiche”, „die Politiker sagen das eine und tun das andere”, „inhaltsleer”, „farblos”, „es gibt keine Charakterköpfe mehr” oder – gerade von den jüngeren – sogar konkrete Verweise darauf, wie bestimmte politische Akteure auf einmal unglaubwürdig versuchen würden, bestimmte Bewegungen für sich einzunehmen, in dem sie sich erst für „Artikel 13” einsetzten und dann dagegen oder sie auf einmal bei Fridays for Futures auftauchen und sich ins Bild drängen würden, um den Eindruck zu erwecken als hätten sie eigentlich schon immer das Gleiche wie die Demonstranten gewollt.
Kurzum: solche Argumente sind nicht neu. Ich habe sie immer schon gehört. Aber so massiv, so oft, wie bei diesen Wahlen noch nie. Dazu kommt ein gänzlich neues Phänomen: ich wurde sehr oft – nicht nur von den jüngeren – auf Kleinstparteien angesprochen. Auf die PARTEI, auf Volt und auch auf DiEM25. Das habe ich bei all den vorigen Wahlen nie erlebt, dass solche Splitterparteien in solchen Veranstaltungen thematisiert werden und sie teilweise auf reges Interesse stoßen.
Mein Eindruck ist, dass dieses sehr stark damit zu tun hat, dass CDU/CSU und ganz besonders die SPD, an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, und viele Wählerinnen und Wähler nun, wo es keine Prozenthürde gibt, überlegen, ob sie jetzt nicht einer kleinen Partei mit neuen und für sie glaubwürdigeren Akteuren die Stimme geben.
Ich habe in der Vergangenheit sehr gegen solche Argumente Position bezogen, in dem ich die Probleme, die eine zu große Zersplitterung der Parteienlandschaft mit sich bringt, aufgezeigt habe. Auch zu Beginn der diesjährigen Mobilisierungskampagnen hatte ich noch diese Position. Jetzt, nach dem ich oft die Argumente jener, die diese Parteien wählen wollen, gehört habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Denn natürlich ist die Zersplitterung ein Problem; insbesondere weil sie die Regierungsbildung erschwert. Andererseits ist es schon auch richtig: für das Europaparlament gilt dieses Argument im Grunde nicht. Denn zum einen haben wir in Europa keine Regierung, sondern eher eine technokratische Verwaltungsbehörde, womit die Notwendigkeit einer Regierungsbildung weg fällt, und zum anderen haben wir im Europaparlament ohnehin sehr heterogene Gruppen und keine klassischen Fraktionen, die nur aus Mitgliedern einer im Vergleich dazu homogenen Partei bestehen.
So gesehen kann die Wahl von Kleinstparteien, die nur wenige hundertausend Stimmen für ein Mandat brauchen, auch Chance für den Wähler sein, konstruktive Denkzettel zu verpassen. DiEM25 wird so zur Möglichkeit für ehemalige Linke-Wähler, die den nationalorientierten Kurs der Linken untragbar finden. Die PARTEI wird so vielleicht wirklich zur Protestpartei „der intelligenten Protestwähler”, weil der informierte Wähler weiß, dass zumindest bei den wirklich wichtigen Themen (links)liberale Positionen eingenommen werden und Volt wird mit seinem linksliberalen und klar auf Reform der europäischen Institutionen ausgerichtetem Profil für viele Wähler der Mitte ein Ausdrucksmittel, um deutlich zu machen, dass die institutionellen Fragen wichtig bleiben. Das die ungelösten Probleme Europas auch damit zu tun haben, dass das politische System der EU in vielerlei Hinsicht noch ungenügend entwickelt ist.
Und mitunter kann, unter diesen Bedingungen, dann sogar eine Kleinstpartei mit klarem Profil für jemanden wählbar werden, der mit seiner eigentlichen Parteipräferenz überwiegend zufrieden ist, aber mit dem Umgang vieler Spitzenfunktionäre zu institutionellen Themen hadert. Und so lernt dann manchmal auch der politische Bildner aus dem Dialog und entscheidet sich dieses Mal, nicht aus Protest, sondern weil er sein zentrales Thema, die europäische Integration, befördern möchte, eine Kleinstpartei zu wählen, obwohl er das vor einigen Wochen noch kategorisch ausgeschlossen hat. Vielleicht ist sie mit ihrem klaren Profil und der klaren Sprache besser als andere in der Lage, den unbefriedigenden Status Quo zumindest medial zu einem Thema zu machen?
Ich denke, ich wähle dieses Mal Volt und was wählst Du?