Gauck unterschätzt die Bedeutung der Institutionen
Bundespräsident Gauck vertat die große Chance, der Debatte um die Zukunft der Europäischen Union, neue Impulse zu verleihen. Mit seiner nun vorliegenden Europarede reihte er sich ein in die lange Schlange derer, die zwar viele Dinge sagen, die irgendwie richtig sind, aber die letztlich doch so wolkig und abstrakt bleiben, dass kaum jemand ernsthaft widersprechen könnte.
Es ist schon bemerkenswert, dass ein amtierender Bundespräsident, der schon zu seinem Antritt durchblicken ließ, dass er dem Europathema größeren Stellenwert einräumen wolle und dies in Anlehnung an Brandt mit den Worten „Mehr Europa wagen!“ ankündigte, eine derartig zahme und wenig mutige Rede hielt.Gauck wagte sich nicht aus der Deckung. Er machte Ausflüge in die Geschichte Europas, stellte rein deskriptiv dar, dass es Europäer gibt, die den Bundesstaat möchten und solche die ein „Europa der Vaterländer“ bevorzugten. Er erinnerte auch an den Den Hager Kongress. Anders als die meisten Teilnehmer dort vermied er es tunlichst, konkrete Positionen zu beziehen, vielleicht in dem Wissen, dass er sich damit angreifbar machen würde, da bei einer solchen Positionierung mit Sicherheit Widerreden erfolgen würden.
Das ist reichlich absurd. Gauck ist aufgrund seines Amtes in der Lage Agenda-Setting zu betreiben. Mit Spannung wurde die Rede erwartet und dann nutzt der Präsident diese Möglichkeit lediglich dafür, festzustellen, dass dringend Diskussionen um die Zukunft Europas notwendig seien. Er bietet allerdings nicht einen wirklichen Angriffspunkt, am dem sich eine substanzielle Debatte wirklich entzünden könnte.
Wofür bedarf es eines Bundespräsidenten, dessen einziges wirkliches Gestaltungsmittel das Wort ist, wenn selbst der amtierende Außenminister und „oberste Diplomat“ unseres Landes sich deutlich visionärer äußert und den Versuch unternimmt eine Richtung zu weisen? Gauck fordert „Bannerträger“ und „Gestalter“. Er selbst bleibt stehen. Angesichts solcher Farb- und Mutlosigkeit wünsche ich mir fast den Wulff zurück, der sich immerhin traute das Migrationsthema zu wählen oder einen Herzog, der mit seiner Ruck-Rede tatsächlich eine breitere Debatte auslöste.
Gauck hingegen beschränkt sich auf wenige unwesentliche Dinge.
Zum Beispiel darauf Bürgerpflichten zu betonen: „Sei nicht gleichgültig„, „sei nicht bequem“ und „erkenne Deine Gestaltungskraft„! Diese Appelle werden folgenlos verhallen. Sie haben keinen Adressaten, der sich von ihnen motivieren ließe. Zudem ist seine dritte Forderung inhaltsleer. Er fordert den Bürger auf zu gestalten, sagt aber nicht wie. Er stellt Ansprüche und die einzige Antwort, die er dazu gibt, ist, dass das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative genutzt werden solle. Zum zentralen Instrument der politischen Meinungsbildung, den Wahlen zwischen politischen Alternativen, schweigt er sich aus!
Sein großes Thema ist die europäische Identität. Ein Thema, dass so alt ist wie die europäische Idee selbst, aber politisch nie unmittelbar etwas bewegte. Gauck verhält sich nicht anders als viele politische Akteure, Journalisten und Publizisten. Mangelnde Akzeptanz muss ein Problem mangelnder Identifikation sein, also muss – so der Umkehrschluss – nur eine Identität her, um die Akzeptanz zu erhöhen. Die Frage, ob die mangelnde Akzeptanz auch systemische Ursachen haben könnte wird dabei leider in den Hintergrund gedrängt. Gleiches gilt für die Frage, ob Akzeptanz die Probleme, die auf der Agenda stehen, lösten. Zugegeben: Europapolitik erfährt zu wenig Aufmerksamkeit. Und auch die geringe Wahlbeteiligung ist unschön. Aber das gehört nicht zu den zentralen politischen Problemen, die zuvorderst gelöst werden müssen.
Gauck selbst nennt grundlegende Probleme, deren Lösung noch aussteht. Er spricht die Eurokrise an, verweist auf Herausforderungen der Globalisierung, fordert die „Vereinheitlichung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, sowie eine „gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik“. Die Frage, ob der Bürger der richtige Adressat ist, um diese Probleme zu lösen, stellt er leider nicht. Hätte er sie sich gestellt dann hätte er merken müssen, dass es nicht der sinnvollste Ansatz ist, Bürgern nahezulegen die strukturellen Probleme mit der Europäischen Bürgerinitiative anzugehen; sondern das ein solches Unterfangen im Grunde eine Verzweiflungstat wäre, um jene zu bewegen, die sich eigentlich bewegen müssten!
Die einzig richtigen Adressaten zur Lösung dieser Probleme sind die politischen Entscheidungsträger, die die Gestaltungsmacht und das Mandat haben, diese Probleme verantwortlich zu lösen. Sie werden sie nicht lösen, in dem sie ein „europäisches Arte“ schaffen, und auch nicht, in dem sie dafür sorgen, dass jeder Europäer die englische Sprache lernt. Letztgenannte Forderung ist zwar richtig und wichtig, da sie jeden Bürger in die Lage versetzten sich Europa in ähnlichem Maße zu erschließen. Mehr englischsprechende Bürger allein würden aber nicht zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen. Denn das Interesse an der EU-Politik ist, wenn man die Wahlbeteiligung als Gradmesser sieht, höchstens ähnlich ausgeprägt wie das konkrete Interesse an der Landespolitik. Die Hohe Politik ist nach wie vor das Feld der Nationalstaaten.
So lange einerseits das institutionelle Gefüge so komplex ist, dass es vielen Bürgern schwer fällt, die politischen Prozesse auf europäischer Ebene zu verstehen und auszumachen wer für welche Entscheidung die politische Verantwortung trägt, und so lange andererseits die wichtigsten politischen Felder im nationalen Kontext entschieden werden, so lange wird es eine Herausforderung bleiben, dem Bürger zu vermitteln, dass die europäischen Wahlen einen ähnlichen Stellenwert haben sollten wie die nationalen.
Das Tragische an Gaucks Äußerungen ist, dass er das Richtige will, aber nicht in der Lage oder nicht Willens ist, die grundlegenden Probleme zu benennen und sich unmissverständlich an jene zu wenden, die die Zukunft Europas unmittelbar in den Händen halten.
Gauck nennt Monnet. Leider aber hat er nicht von ihm gelernt. „Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft ohne Institutionen,“ das war Monnets Credo, das noch heute richtig ist. Der Schlüssel zur Bewältigung der aktuellen Probleme liegt vor allem in der institutionellen Ausgestaltung Europas!
Es wird immer schwerer Auswege aus der zunehmenden Intergouvernementalisierung zu finden. Insofern fällt es mir schwer zu verstehen, warum unser Bundespräsident feststellt, dass wir in mitten „dieser Diskussionen und nicht an ihrem Ende“ stehen und das wir „gemeinsam und in aller Ausführlichkeit die grundlegenden Fragen zur Zukunft des europäischen Projekts“ diskutieren müssen, ohne im folgenden auch darüber zu sprechen, wie wir dieser Diskussion Struktur geben können.
Ein Diskurs, der im wesentlichen über die Politikressorts und das Feuilleton (oder ein gesamteuropäisches Arte) geführt wird, reichte nicht aus, um zu Ergebnissen zu gelangen. Die Forderung nach einem neuen Konvent wäre naheliegend gewesen, aber selbst diese Chance wurde von unserem Bundespräsidenten vertan.
„Mehr Europa wagen“, das sieht anders aus!
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Viel gerede,nichts dahinter
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