Der Treffpunkt Europa hat einen Artikel von mir zu „Spitzenkandidaten 2.0“ veröffentlicht, in dem ich einen Vorschlag mache, was aus den Erfahrungen dieser Wahlen folgen sollte.
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Die Spitzenkandidatenposse
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Euractiv hat einen Gastkommentar von mir zur Spitzenkandidatenposse veröffentlicht.
Föderalistische Scheingefechte
Kaum hat Europa gewählt, ist die Diskussion um den nächsten Kommissionspräsidenten entbrannt. Das ist nicht verwunderlich. Verwunderlich aber ist, welche Akteure nun darauf pochen, dass nur Spitzenkandidaten in Fragen kommen sollten und wie schwach ihre Argumente sind.
1. Parlament versus Rat?
Es heißt, das Parlament müsse sich nun gegen Rat durchsetzen. Das ist nichts neues, denn diesen Versuch muss das Parlament bei jeder politischen Entscheidung, die es trifft, unternehmen. Durchsetzen heißt dabei immer, dass die eigenen Interessen nicht untergehen. Durchsetzen heißt dabei nie, dass das Parlament den Rat überstimmt, denn das lässt das institutionelle Gefüge der EU nicht zu. Es bedarf stets der Mehrheit in beiden Kammern.
Nicht anders ist es bei der Frage, wer die Europäische Kommission führen soll. Denn klar ist: gegen das Parlament kann kein neuer Präsident gewählt werden. Klar ist aber auch: nur der Europäische Rat kann Vorschläge unterbreiten. Hierbei sagen die Verträge allgemein, dass er seine Vorschläge vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Parlamentswahlen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen hat. Viel allgemeiner geht es nicht.
Was aber klar ist: das Parlament kann sich auch hier nicht einseitig gegen den Rat durchsetzen. Ausnahmslos jeder Kommissionspräsident ist immer ein Kommissionspräsident, der sowohl von einer Mehrheit der Staats- und Regierungschefs als auch einer Mehrheit im Europäischen Parlament getragen wird. Es geht gar nicht anders. Nun gegenüber der interessierten Öffentlichkeit so zu tun als läge das Primat der Entscheidung beim Europäischen Parlament, ist in rechtlicher wie politischer Hinsicht komplett irreführend. Die Initiative liegt beim Rat und jeder Versuch sich gegen den Rat zu behaupten und ihm die Initiative aus der Hand zu nehmen muss scheitern, jedenfalls dann, wenn nicht ähnliche Mehrheiten in beiden Organen zu finden sind.
2. Was heißt hier Spitzenkanditen?
Die Forderung, das Parlament müsse sich durchsetzen, wird noch abenteuerlicher, wenn man die Frage stellt, wen es denn eigentlich durchsetzen soll. Es wird gefordert, dass Parlament solle sich dafür einsetzen, dass ausschließlich ein Spitzenkandidat gewählt wird. Da von den Fraktionen der Mitte, die am ehesten ein Bündnis schmieden könnte, aber nur die Europäische Volkspartei und die Sozialisten und Demokraten Spitzenkandidaten im engeren Sinne aufgestellt haben, interpretieren einige den Begriff Spitzenkandidaten kurzerhand noch weiter als zuvor. Die liberale ALDE hatte sich dem Spitzenkandidatenspiel entzogen und ein Kompetenzteam aufgestellt, aus dem es sein europäisches Spitzenpersonal rekrutieren wollte. Und die grüne Partei tat auch bei den letzten Wahlen schon so, als könne man ein Amt mit zwei Personen besetzen.
Da angesichts der Wahlergebnisse ALDE und Grüne als „Königsmacher” gelten und es ohne mindestens eine dieser beiden Fraktionen nicht gelingen wird eine Mehrheit zu finden, wird also kurzerhand gesagt ALDE und Grüne hätten mehrere Spitzenkandidaten.
Was im ersten Moment noch plausibel erscheinen mag, ist bei näherer Betrachtung nicht tragfähig und hochproblematisch. Denn konkret bedeutet dies: die EVP hat einen Spitzenkandidaten (Manfred Weber), die S&D hat ebenfalls einen Spitzenkandidaten (Frans Timmermans), die Grünen haben zwei Spitzenkandidaten (Ska Keller und Bas Eickhout) und die ALDE hat sieben Spitzenkandidaten (unter denen die bisherige Wettbewerbskommissarin, Margrete Vestager, die aussichtsreichste ist).
Wer sich ein wenig mit Spieltheorie beschäftigt hat, erkennt schnell das Problem und kann es einfach nachvollziehen: unter den konkreten politischen Gegebenheiten heißt dies, dass EVP und S&D genau eine Chance haben, den Spitzenkandidaten zu stellen. Sie müssen alles daran setzen ihre jeweilige Person durchzusetzen, denn wenn ihnen dies nicht gelingt, dann haben sie keine weitere Chance und sind raus aus dem Spiel. Die ALDE hingegen hat sieben Optionen und ist somit in Verhandlungen deutlich flexibler. Sie hat also einen Vorteil gegenüber allen anderen. Wenn diese weite Interpretation Akzeptanz erfährt bedeutet dies, dass wir in Zukunft mit einer großen Zahl von Spitzenkandidaten in allen Parteienfamilien rechnen können, da eine Begrenzung auf einen Kandidaten irrational wäre, da dies die eigenen Chancen stark beeinträchtigt. Die Funktion, die Spitzenkandidaten damit mal haben sollten, wäre damit hinfällig.
Wenn sich aber die restriktive Lesart durchsetzt, dann gäbe es lediglich zwei Spitzenkandidaten, von denen nur einer eine realistische Chance hätte: der konservative Manfred Weber, der gerade für viele Liberale und Grüne eigentlich nicht wählbar ist, weil er in seiner Funktion als EVP-Fraktionschef jahrelang dem Autoritären Viktor Orban den Rücken frei gehalten hat.
Was passiert, wenn es keine einheitlichen Vorstellungen zu Verfahren gibt, können wir gerade erleben. Es passiert genau das, was schon nach der Theorie hochwahrscheinlich war. Derzeit wird im Wesentlichen über die Deutungsmacht bezüglich der Spitzenkandidaten gestritten. So stellt sich Manfred Weber erwartungsgemäß auf den Standpunkt, dass Vestager natürlich nicht Kommissionspräsidentin werden könne, weil sie nicht Spitzenkandidatin gewesen sei und bis nach der Wahl nicht klar gewesen wäre, wen man mit seiner Stimme für die Liberalen unterstützt habe. Diese Position wird auch vom konservativen Günther Oettinger vertreten. Der Liberale Guy Verhofstadt sieht dies freilich anders und verweist darauf, dass dieses Spitzenkandidatensystem keinen Sinn macht und sieht es nicht als verbindlich an, womit er zumindest in rechtlicher Hinsicht vollkommen richtig liegt, da die Verträge keine Spitzenkandidaten vorsehen.
Prominente Grüne treiben die Absurdität auf die Spitze und lavieren sogar ganz offensichtlich so herum, dass jedem Betrachter schnell klar wird, dass ihre Definition jeweils davon abhängt, was gerade der eigenen Machtoptionen am zuträglichsten ist. So hat der deutsche grüne Spitzenkandidat, Sven Gigold, am 21. Mai kurz vor der Wahl noch öffentlich moniert, dass die Liberalen keinen Spitzenkandidaten hätten, während nun, nach der Wahl, auf einmal die Position eingenommen wird, dass die Liberalen eben nicht einen, sondern gleich sieben Spitzenkandidaten gehabt hätten. Das Interesse ist klar: vor der Wahl waren die Liberalen Wettbewerber um Wählerstimmen, jetzt sind die Liberalen potentielle Bündnispartner um den, in den eigenen Reihen nur schwer vermittelbaren „Autokratenkandidat” (Daniel Kelemen) zu verhindern.
3. Die Entleerung des Demokratiebegriffs
Was bei dieser Betrachtung deutlich wird: es gibt einen Kampf um die Definitionshoheit und bei diesem Kampf geht es nicht um heere Prinzipien und darum was demokratietheoretisch sinnvoll ist, sondern um unmittelbare politische Macht; um den eigenen Vorteil.
Statt dieses transparent zu kommunizieren wird gerne der Bürger vereinnahmt oder das große Wort der Demokratie in den Mund genommen und behauptet, dass dieses diffuse und undurchdachte Spitzenkandidatenprinzip ein „großer Schritt zur Demokratisierung” (Ska Keller) sei. Diese große Rhetorik passt nur leider überhaupt nicht zu den Realitäten. Meine Erfahrung aus der Wählermobilisierungskampagne, die bislang noch jeder bestätigte, mit dem ich über diese Erfahrung gesprochen habe, ist ganz eindeutig: ein großer Teil der Wähler kann auf die Frage wer die Spitzenkandidaten der jeweiligen Parteien sind keine korrekte Antwort geben. Entweder wird geantwortet, dass man dies nicht wisse oder – und das war mindestens eben so häufig der Fall – es werden Antworten gegeben, die regionale oder nationale Spitzenkandidaten benennen und damit schon bei den letzten Wahlen zu einer „Spitzenkandidateninflation” beigetragen haben. Bei den Grünen wird in Deutschland deshalb meist Sven Giegold statt Bas Eickhout genannt und bei der CDU habe ich es schon erlebt, dass ein Spitzenkandidat eines Bundeslandes, David McAllister, genannt wurde, während bei der SPD fast immer Barley, die einen hohen Bekanntheitsgrad genießt, genannt wurde, während Timmermans trotz seiner wichtigen Position weitgehend unbekannt war.
Aber selbst wenn dieses anders wäre und Spitzenkandidaten wirklich im Mittelpunkt der Wahlentscheidung gestanden hätten: wieso sollte dies demokratischer sein als eine Wahl ohne diffuses Spitzenkandidatenprinzip?
4. „Regierung” oder neutraler Mittler?
Bezeichnend ist, worüber bei dieser seltsamen Debatte überhaupt nicht (mehr) gesprochen wird. Darüber was mit Spitzenkandidaten eigentlich genau intendiert sein soll. Wie sie mehr demokratische Qualität bringen sollen. Und auch darüber, warum es offenbar so viele verschiedenen Interpretationen gibt und niemandem aufzufallen scheint, dass es substanzielle Unterschiede zwischen Spitzenkandidaten a la Weber und Spitzenkandidaten a la ALDE gibt, wird nicht gesprochen.
Dabei ist doch vollkommen klar, dass die Funktion bei beiden Interpretationen weit auseinander geht. In der Interpretation a la Weber bedeuten Spitzenkandidaten, dass jede Parteienfamilie klar kommuniziert, wer ihre Nummer 1 ist und wer den ersten Zugriff auf das Spitzenamt bekommt. Das ist – in diesem Punkt hat Weber recht – auch das Verfahren, dass am dichtesten bei den üblichen Verfahren der meisten nationalstaatlichen Wahlen ist.
In der Interpretation der ALDE mit einem Kompetenzteam hingegen wird dem Wähler keine Nummer 1 für ein Spitzenamt angeboten, sondern vielmehr der Pool definiert aus dem bei den kommenden Pesonalverhandlungen für Spitzenpositionen das Personal rekrutiert werden soll. Dahinter steckt ein anderer Anspruch, der bezüglich des Kommissionspräsidenten nicht eindeutig ist, aber bezüglich der Besetzung weiterer Spitzenpositionen dem Wähler hingegen mehr Klarheit verschafft, nicht zuletzt auch deshalb, weil nur eine Parteienfamilie den Zugriff auf das Spitzenamt erlangen wird, dieses aber andererseits nicht das einzige zu besetzende Amt sein wird.
Die ausbleibende Diskussion über die normativen Grundlagen, warum man eigentlich Spitzenkandidaten haben möchte, hat jedoch noch weitreichendere Implikationen, denn Spitzenkandidaten können im wesentlichen zwei Funktionen erfüllen:
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Sie können etwas mehr Aufmerksamkeit auf eine der Top-Personalien der EU lenken und tragen durch diese Personalisierung möglicherweise dazu bei, dass mehr Wähler einen Eindruck davon bekommen, was in dem Organ, dem diese Person vorsteht, passiert.
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Spitzenkandidaten tragen explizit zur Politisierung der Kommission bei, denn die Spitzenkandidaten grenzen sich durch unterschiedliche Programmatik voneinandern ab. Sie werben für spezifische Prioritäten.
Der letzte Punkt ist bei der Reflexion „des” Spitzenkandatensystems von zentraler Bedeutung. Denn die Kommission ist in vielerlei Belang mehr technokratische Behörde als politisches Organ mit einer gänzlich eigenen Agenda. Sie ist keine Regierung.
Unter Föderalisten ist eine zentrale Zielvorstellung bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union, dass die Kommission zu einer Art Regierung umgebaut wird. Dieses Ziel macht in vielerlei Hinsicht Sinn, so dass man, sofern man dieses Ziel teilt, Spitzenkandidaten deswegen prima facie für eine gute Idee halten muss.
Das Problem dabei: es birgt auch Risiken, wenn man die Führung der Kommission politisiert, ohne die Verträge zu ändern. Denn zum einen entscheidet nicht der Kommissionspräsident über seine Kommission, sondern die Mitgliedsstaaten. Darunter solche mit Regierungen, die nicht unbedingt jenen Fraktionen im Europäischen Parlament zugehörig sind, die den Kommisionspräsidenten und seine Kommission gewählt haben.
Der Kommissionspräsident hat zwar seit dem Vertrag von Lissabon eine Richtlinienkompetenz, aber das ist ein rechtliches Mittel, welches Kommissare, die bestimmte politische Projekte nicht mittragen wollen, nicht unbedingt kooperativer agieren lässt und dessen extensive Nutzung die Zusammenarbeit in der Kommission deutlich erschweren würde. Eine starke Politisierung würde den Einsatz dieses Instrumentes als Machtmittel bei einer Zusammensetzung mit vielen Mitgliedern, die andere Ziele verfolgen als der Präsident, häufiger notwendig machen.
Noch größere Tragweite hat der Umstand, dass die Kommission zahlreiche Wächter- und Mittlerfunktionen hat. So kommt ihr als „Hüterin der Verträge” eine zentrale Rolle bei Vertragsverletzungsverfahren zu. Diese können vor dem EuGH nur von ihr und den Regierungen der Mitgliedsstaaten eingeleitet werden. In der Praxis werden, so nicht gerade ein Mitgliedsstaat seine eigenen Rechte verletzt sieht, werden solche Verfahren nur von Kommission angestoßen. Dass ein Mitgliedsstaat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen anderen Mitgliedsstaat anstrengt, ohne das unmittelbar eigene Interessen verletzt werden, ist die Ausnahme. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Herausforderungen Rechtsstaatlichkeit in der EU zu bewahren wird es also umso wichtiger, dass es weiterhin einen starken Akteur gibt, der diese Funktion ausfüllt und dabei breite Akzeptanz erfährt. Leider aber kann diese Funktion durch eine zunehmende und sichtbare Politisierung der Kommission geschwächt werden, da dann Anwürfe, dass die Kommission willkürlich entscheidet, ob sie Verfahren anstrengt, natürlich leichter zu erheben und schwerer zu entkräften sein werden, als unter Bedingungen in denen die Kommission als fairer und politisch eher neutraler Mittler auftritt.
Spitzenkandidanten entwickeln die Kommission weiter in Richtung eines Hybriden, der unterschiedliche und miteinander nur schwer zu vereinbarende Rollen vereinbaren soll. Ohne weitere vertragliche Änderungen könnte somit zwar die Kommission politisiert werden, dieses aber um den Preis, dass ihre Rolle als Hüterin der Verträge geschwächt wird.
Da leider momentan der Großteil der politischen Führungskräfte in den größeren Parteienfamilien, von der EVP bis zu den Grünen, der Überzeugung ist, dass auf absehbare Zeit keine großen Vertragsänderungsdiskussionen angestrebt werden sollen, ist dieses Problem auf absehbare Zeit nicht lösbar.
5. Transnationale Listen führen automatisch zur Entwicklung eines Spitzenkandidatensystems
Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben gibt es zahlreiche Widersprüche und leider keine Debatte und keine substanziellen Erklärungen dazu, warum man ein Spitzenkandidatenprinzip überhaupt braucht und warum man nicht erst einmal jene Voraussetzungen schafft, die automatisch und auf ganz natürliche Art und Weise Spitzenkandidaten hervorbringen würde; ohne das Machtkämpfe über ein sinnentleertes Spitzenkandidatenprinzip geführt werden müssten, bei denen sich die Akteure um Definitionen streiten.
Man müsste nur länderübergreifende Wahllisten einführen, die in Form einer Erst- oder Zweistimme in ganz Europa zur Wahl stünde. Dann hätte jede Parteifamilie in ganz Europa die Möglichkeit auf dieser Liste einen Spitzenkandidaten zu platzieren, der überall in Europa zur Wahl stünde. Niemand müsste mehr darüber streiten, wer „legitimer” und wer nur „angemaßter” Spitzenkandidat sei. Und auch die Inflation der Spitzenkandidaten, wie wir sie seit den letzten Wahlen erleben, würde sich rückläufig entwickeln, da dann Personen wie der Bayer Manfred Weber nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland und ganz Europa wählbar wären.
Das wir das nicht bekommen haben, hat aber ausgerechnet jener verhindert, der jetzt der Musterschüler in Sachen Spitzenkandidaten sein will…
Streitgespräch mit Manuel Müller
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Manuel hat in seinem Weblog ein Streitgespräch veröffentlicht in dem wir uns über den Nutzen von Spitzenkandidaten in der jetzigen Form austauschen. Ich halte das Instrument in der jetzigen Form für vollkommen ungenügend und potentiell schädlich. Folgt dem Link dann könnt Ihr nachlesen warum.